mirabess


Hier nun die offizielle Vorgeschichte der Mirabess zu Guisan:

Die Kinder im großen Saal sahen auf. Soeben betrat die ehrenwerte Dame Esther
den Raum. 
Und neben ihr ging eine andere, fremde Person. Die Kinder hatten sie noch nie
gesehen, aber ihre Erscheinung ließ sie alle frosteln.
Die Fremde ging gebuckt. Ein Bein schleifte sie hinter sich her, wahrend die
linke Hand auf 
einem knorrigen Stock gestutzt war. Dabei wirkte diese Hand genauso alt und
sprode, wie das vom Zahn der Zeit gezeichnete Holz des Stabes. Unzahlige Falten
und Furchen durchzogen die Haut. Ihre hagere Gestalt war in einen groben, vil zu
grosen Uberwurf verborgen, aus dem ihre Gliedmasen wie dunne Aste hervorlugten.
Aschfales Haar war unter der Kapuze zu erkennen, in deren Schatten das Gesicht
verborgen lag. Aber als sie an einem der Fenster vorbei ging, konnte man
erahnen, das das Gesicht im Schatten der Kapuze von unglaublicher Haslichkeit
sein muste. War die Haut der Hand schon von Falten und Furchen entstellt
gewesen, so lies das Licht von drausen eine schier unfasbare Fratze erkenen, in
der ein verrunzelter , zahnloser Mund zu einem Grinsen erstarrt war.
Der Oberin Esther war die Gegenwart der Frau sichtlich unangenehm. Nervos und
mit Bewegungen, die einer aufgescheuchten Henne glichen, die ihre Kuken um sich
scharrt, scheuchte sie die Kinder auf. "Los, los, stellt Euch auf meine
Goldsternchen. Wir haben Besuch." Und an die Besucherin gewandt fuhr sie fort:
"Nun, meine werte Dame Ingenuitas, wenn ihr mir sagen wurdet, nach welcher Art
Kind ihr auf der Suche seit, kann ich vielleich schon im vorne herein sagen,
ob..." Die Oberin wurde von einem Kichern unterbrochen, das so klang, als ob
jemand rostiges Eisen aneinander reiben wurde."Hi,hi,hi,. Das Kind, das ich
suche, wird sich mir schon offenbaren, meine Liebe. Zeigt sie mir nur alle,
vielleicht haben wir ja Gluck, ein Kind und ich." Mit einem resignierten
Schulterzucken wies Oberin Esther auf die Madchen ihres Waisenhortes: "Nun, das
sind alle."
Ingenuitas schritt, soweit es ihr mit dem verkruppelten Bein moglich war,
langsam an den Kindern vorbei. Wahrend die Kinder sich angstlich
zusammendrangten und jede von ihnen hoffte,  nicht mit dieser graslichen, alten
Frau mitgehen zu mussen, faste diese Madchen fur Madchen fest ins Auge. Dabei
versuchte sie ein freundliches Lacheln zustande zu bringen. Die Lahmung ihres
Gesichtes jedoch lies diesen Versuch klaglich scheitern. Ihr Anlitz verzog sich
zu noch furchtbareren Formen. Endlich blieb sie bei einem der Madchen stehen. Es
mochte vielleicht 9 Jahre alt sein. Trotzig hatte es sein Kinn vorgestreckt und
versuchte Ingenuitas keine Angst zu zeigen. Bose funkelte es die Alte aus seinen
Augen an, trat dabei allerdings unsicher von einem Bein auf das andere.
Plotzlich kniff das Kind die Augen zusammen und schuttelte verwirrt seine
tiefroten, langen Locken. >Waren die Augen dieser haslichen, ekelhaften Alten
etwa lila?<
"Na, junge Dame, was ist mit uns Zweien? Was haltst Du davon, wenn wir zwei hier
zusammen hinaus spazieren und Du bei mir in die Lehre gehst?" schnarrte
Ingenuitas vergnugt. Aufmunternd hielt sie dem Kind die Hand entgegen und
seltsamerweise faste das Madchen jetzt ohne die geringste Angst zu. "Nun werte
Dame Esther, es scheint, ich habe mein Kind gefunden. - Wie heist Du Kleines?"
"Das Kind heist Mirabess-" mischte sich nun die Oberin wieder in das Gesprach
ein. Sie wollte die alte Frau so schnell wie moglich wieder los sein. "Und nun
fogt mir bitte, damit die notigen Formalitaten erledigt werden konnen."

Mirabess ging also zu Ingenuitas in die Lehre.
Im Lauf der Jahre entwickelten die beiden eine innige Zuneigung zueinander. Mehr
und mehr nahm die Alte fur das Madchen die Stellung der Mutter ein und
gleichzeitig war Ingenuitas bemuht, es dem Madchen so angenehm wie moglich
einzurichten. Denn trotz ihrer Haslichkeit, die als Folge der jahrelangen
Anwendung ihrer Kunst entstand, war sie eine herzensgute Frau. Obwohl die Kunst
der Hexen sich schwer einer bestimmten Seite zuordnen last, war Ingenuitas
grundsatzlich der heilenden Seiter der Zauber zugetan. Dennoch waren
Wandlungszauber ihr heimliches Steckenpferd. In jedem Fall hatte sie umfassendes
Wissen um ihre Zunft und war Meisterin in ihrem Fach. Dennoch brauchte sie sehr
lange, eh sie der jungen Mirabess endlich gestand, warum gerade sie aus dem
Waisenhort uz ihr gekommen war. Immer wieder hatte sie den Versuch unternommen
das Kind zur Rede zu stellen, aber Mirabess war immer noch zu schalkhaft und
unkonzentriert, um sie zu verstehen. So verschob die Alte wieder und wieder ihr
Anliegen und hoffte, das ihr noch genug Zeit blieb, dem Madchen irgendwann die
Wahrheit zu sagen.


"Sag mal Mirabess, hast Du dich nie gefragt, warum ich mir mit Dir so sicher
war?" "Doch, aber Du hast mir doch erzahlt, das Du das Gefuhl hattest, ich eigne
mich gut fur Deinen >Beruf<." "Nun, das ist richtig, aber Du solltest wissen,
das Hexen ihr Wissen nur an Hexen weitergeben, nicht an normale Menschen. So
bleibt es sicher, das unser Wissen nicht zu Ohren kommt, die es nichts angeht.
Auserdem konnten Menschen eh nichts gescheites damit anfangen!  Als ich Dich im
Hort gesehen habe, war ich mir desshalb so sicher, weil ich Dich als Hexe
erkannt habe. Ja mein Kind, Du bist eine richtige , echte Hexe. Wir erkennen uns
gegenseitig an den Augen. Fur uns sind die Augen einer Hexe violet, fur jeden
anderen sind meine Augen zum Beispiel braun, nicht violett, wie Du immer
dachtest. Das kann sehr nutzlich sein, wie in Deinem Fall, verrat Dich aber
immer in Gegenwart anderer Hexen und das ist nicht immer von Vorteil. Merke Dir
das gut! Ich war damals auf der Suche nach einer Nachfolgerin. Einige
Waisenheime hatte ich schon besucht, dann fand ich Dich...-" Ingenuitas machte
eine kurze Pause, fuhr dann aber schnell fort, eh Mirabess` aufgewuhlte Fragen
sie aus dem Konzept bringen konnten.
"Du hast mich mal gefragt, warum mein Korper sich immer weiter verandert und wie
es zu seiner Entstellung gekommen war. Nun, das sind die Nachteile unsere Zunft.
Wir brauchen fur unsere Zauber unseren eigenen Lebenssaft und manchmal kann es
eben vorkommen, das der Korper dieser Belastung nicht gewachsen ist. Ich habe zu
oft meine Kraft uberschatzt und zahle nun nach und nach den Preis dafur.... Auch
das merke Dir gut! Geh sorgsam mit der Dir verliehen Kraft um. Bald werden meine
Krafte vollig verbraucht sein. Aber ich bin mir sicher, das Du dann Dein Erbe
antreten wirst...."



Uwe Kall, Wed,17 Jul 1996.09:40:58